Reisen als Experimentierfeld: Sich treiben lassen

Ein Artikel von Veronika Mercks

 

Loslassen

Nichts planen. Nichts erledigen.
Einfach nur da sein.
Wie ein stiller, ruhiger See.
Nicht eilen, nicht hetzen.
Sich einfach nur treiben lassen.
Wie eine Wolke am Himmel.
Nicht kämpfen, nicht durchhalten.
Einfach nur loslassen.
Wie eine Feder im Wind.
– Jochen Mariss

Stelle dir vor, dein Leben wäre wie ein Fluss, der durch eine abenteuerliche sowie unglaublich vielfältige Landschaft fließt und auf dem du dich treiben lässt. Du weißt nicht, wo er dich langtreibt oder wo du gerne deinen Anker werfen möchtest. Du lässt dich einfach treiben, hörst auf deine Bedürfnisse und Sehnsüchte, verweilst dort, wo es dir gefällt oder wo es dich hinzieht. Manchmal beobachtest du einfach, wie die Landschaft an dir vorbei zieht. Du hast kein festes Ziel, keine feste Aufgabe. Du bist einfach nur da und lässt Dinge entstehen. Manchmal bleibst du für eine Weile am Ufer, bevor du dich wieder in den Fluss legst und dich weiter treiben lässt. Eigentlich ist unser ganzes Leben ein solcher Fluss. In unserem „normalen“ Alltag fällt es jedoch vielen von uns oft schwer, sich auch nur ein wenig oder für eine kurze Weile so richtig treiben zu lassen. Ich bin nicht der Ansicht, dass man dies immer tun sollte. Pläneschmieden, sich absichern, Geld verdienen, Termine, feste Verabredungen etc. sind oft wichtige Bestandteile in unserem Leben, keine Frage. Sie geben uns Sicherheit, Orientierung, Struktur und einen Fahrplan. Sie ermöglichen uns, dass wir uns sicherer fühlen, dass wir uns auf Konkretes freuen können und dass wir wissen, woran wir uns „festhalten“ können. Diese Dinge sollten unser Leben jedoch nicht bestimmen.

Wo lässt sich das „Sichtreibenlassen“ besser ausprobieren, leben und erfahren als während einer Reise, denn sie ermöglicht uns ein wunderbares Umfeld zum Experimentieren. Sie hilft uns dabei, uns frei von Terminen und Verpflichtungen machen zu können und kann uns als ein weißes Blatt dienen. Als ein Blatt, welches wir Stück für Stück beschreiben und mit den buntesten Farben bemalen können. Bei einer Reise können wir uns ganz bewusst in den Fluss des Lebens hineinwerfen. Je weniger wir unsere Reise planen, desto mehr Raum geben wir dem Unvorhergesehenem: neuen Begegnungen, Erlebnissen, Erfahrungen sowie letztlich vor allem uns selber und unserer persönlichen Entwicklung.

Sich treiben lassen, wie dieser Fluss

Wir sollten uns nicht zur völligen Planlosigkeit zwingen, wenn es nicht unserem Naturell entspricht. Viel mehr geht es darum, immer wieder auszuprobieren wie es sich anfühlt und vor allem auch aus zu halten, keine großartigen Pläne zu schmieden und sich fest zu legen. Es sich immer wieder zu erlauben, in den Tag hineinzuleben und zu schauen, wohin einen das Leben auf der Reise hintreibt.

Moment mal! Ich bleibe hier. – Das Leben im Augenblick

Was das Sichtreibenlassen auch impliziert ist zu lernen, wirklich im Moment zu leben und in ihn hinein zu spüren. Wenn wir uns wirklich treiben lassen können, denken wir für einen Moment einmal weniger darüber nach, welche Konsequenzen unsere Entscheidung beziehungsweise Handlung haben könnte. Wir nehmen die Zeichen unserer Reise als Anlass, uns in eine bestimmte

Richtung führen zu lassen. Vielleicht begegnen wir einem Menschen, dem wir gerne folgen möchten oder wir hören von einem wunderschönen Ort und verwerfen kurzfristig unsere vorher gemachten Pläne. Einfach, weil es sich eben in diesem Moment richtig anfühlt. Wie oft habe ich selber erlebt, was für prägende Begegnungen, Entdeckungen und Abenteuer daraus entstehen können, dass ich mit dem Fluss des Reisens geschwommen bin.

Sich dem Fluss des Lebens hingeben

Als ich mich im Herbst 2016 auf meine Reise mit dem Rucksack durch mehrere afrikanische Länder und Indien begab, war das Experiment des „Sichtreibenlassens“ einer meiner großen Schwerpunkte für mein Abenteuer. Ich wollte zum ersten Mal in meinem Leben losreisen ohne zu wissen, wann ich genau zurückkäme und wo es mich ganz genau hinführen würde. Wissen wie es sich anfühlt, keinen wirklichen Plan für eine lange Zeit zu haben und fast in jedem Moment entscheiden zu können, wo ich sein möchte und welche Wege ich einschlage. Bis dem Zeitpunkt ging ich jahrelang zur Schule, studierte, kümmerte mich um meine nächsten Ausbildungs- und Jobschritte, suchte nach Jobs, fand welche und in den Zeiten dazwischen empfand ich meine „Lücken“ als eher schmerzhaft orientierungslos, denn ich konnte mich an nichts so richtig festhalten. Ich hatte so oft das bedrängende Gefühl, einen Plan haben zu müssen und erkannte nie das wichtige Potential der Übergangsphasen des Lebens.

Diese Reise, die ich nach 8,5 Monaten beendete, ist nun bereits eine Weile her. Sie war keineswegs einfach und hat mich an vielen Stellen sehr herausgefordert. Vor allem eben auch bezogen darauf, nicht so viele Pläne zu machen, viel mehr auf die Intuition zu hören und sich für eine Weile der Unproduktivität auszusetzen. Sie hat mich unglaublich viel gelehrt und bereichert. Dadurch, dass ich mich treiben ließ durfte ich wunderbare Menschen kennen lernen und hatte Zeit zum Beobachten und Wahrnehmen. Ich stellte fest, wie sehr ich mich mit meiner Konditionierung Pläne haben „zu müssen“, im Endeffekt selber einschränke. Ich lernte vor allem auch, meiner inneren Stimme viel öfter zu folgen und zu vertrauen.

Und die Reise lehrte mich vor allem auch, mich in meinem Alltag und generell im Leben viel öfter treiben zu lassen, zu vertrauen und los zu lassen.

Ein Segelboot, das sich vom Wind treiben lässt